Volkstrauertag 14. November 2021

Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger von Scharmede, liebe Kameraden und Schützenbrüder!

Vor gut 100 Jahren wurde der Volkstrauertag eingeführt, als Gedenktag für die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges.

Dabei stand der Gedanke an Versöhnung und Verständigung im Vordergrund.

Trotz der furchtbaren Erfahrungen des Ersten Weltkrieges führte das deutsche Volk 21 Jahre später einen Zweiten Weltkrieg.

In diesem Jahr gedenken wir besonders des Russlandfeldzuges, der 1941 begann, also vor 80 Jahren und der Millionen Menschen, die an der Ostfront und anderswo ihr Leben verloren haben.

Die Vernichtung und Versklavung ganzer Völker und nicht nur der Sieg über das gegnerische Militär standen den deutschen Machthabern im Vordergrund.

Wir hier in Scharmede stehen heute wieder einmal vor den Namen der zahlreichen Männer, die nicht in ihre Heimat und zu ihren Familien zurückkehrten, die ihr Leben dem Krieg opferten.

Die noch lebenden Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges sind inzwischen 80 Jahre und älter und wir, deren Kinder und Enkel, kennen ihre Traumata und grausigen Kriegserfahrungen aus ihren Erzählungen.

Es hat auch für mich eine besondere Bedeutung, hier zu stehen. Denn auch mein Vater erzählte uns, dass er im Alter von 19 Jahren dem General Paulus in den Russlandfeldzug bis Stalingrad folgen musste. Die Erinnerungen an diese furchtbaren Erlebnisse und seine Verwundung dort waren zeitlebens immer wieder präsent. Da seine oberschlesische Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg polnisches Staatsgebiet wurde und der Eiserne Vorhang Besuche verhinderte, ist er nie wieder in seiner Heimatstadt gewesen.

Ähnliche Erfahrungen machten die 14 Millionen Vertriebenen und Geflüchteten aus den Ostgebieten, etwa 300 von ihnen fanden in Scharmede eine Bleibe oder auch eine neue Heimat, darunter auch zahlreiche Kriegs – Witwen, die mit mehreren Kindern in dieser armen Nachkriegszeit den Neuanfang schaffen mussten. Bei meinen Gratulationen als Ortsvorsteherin sind ihre tragischen Erlebnisse immer wieder ein Thema.

Erinnern möchte ich auch an einen besonderen Zeitzeugen von der Westfront, an unseren französischen Freund Francis Levavasseur, der als Fünfjähriger in der Normandie den Tod seiner Mutter durch deutsche Soldaten miterlebte und trotz dieses Traumas oder gerade deswegen, sich für die Völkerverständigung einsetzte und die Partnerschaft zwischen Scharmede und Cerisy entscheidend mitgestaltete. Im Sommer dieses Jahres erhielt Francis Levavasseur, der Scharmede oft besuchte, im Alter von gut 80 Jahren das Bundesverdienstkreuz vom Deutschen Botschafter in Paris.

Wir wissen auf Grund dieser schmerzhaften Erfahrungen, dass nie wieder Krieg und Hass zum Mittel der Politik in Europa werden dürfen.

Wir gedenken daher heute auch des Mutes derer, die sich für die Versöhnung unserer Völker einsetzen. Unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen, in den Familien, in unserem Dorf und in der ganzen Welt.

Neben der Mahnung zu Versöhnung und Verständigung sind weitere Erinnerungskulturen entstanden: Gedenkspaziergänge, Friedenssteine oder Namensziegel erinnern an unsere jüdischen ermordeten Mitbürger z.B. auch in Salzkotten.

Unser heutiges Innehalten hier am Ehrenmal sollte uns darin bestärken, weiterhin mutig für ein friedvolles Europa einzutreten. Friedenserziehung beginnt im Alltag, in den Familien, und wird in unseren Kindergärten und Schulen fortgesetzt.

Wir erleben jedoch fast täglich in den Medien Berichte über Gewaltverbrechen, über rechtsextreme Verschwörungstheoretiker und antisemitische Tendenzen erreichen grade wieder verstärkt die Mitte der Gesellschaft.

Wirtschaftsflüchtlinge und Migranten aus totalitären Staaten klopfen an unseren Außengrenzen und suchen Schutz bei uns, auch in Scharmede.

Gewalt hat viele Gesichter: bei uns in Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Lebenspartner oder Ex-Partner getötet, Tausende Kinder müssen sexuelle Gewalt ertragen.

Da stellt sich mir die Frage: Welche Fähigkeiten brauchen wir Männer und Frauen, um sensibel nach Lösungen zu suchen, präventiv zu agieren und nicht nur auf Gewalt zu reagieren?

Bin ich offen für unterschiedliche Meinungen und Erfahrungen?

Kann ich Vielfalt zulassen? Führe ich Dialoge auf Augenhöhe?

Wir brauchen weltweit Menschen, die diese Fähigkeiten im täglichen Miteinander leben, Problemlöser und keine Problemverstärker!

Doch dieses Idealbild fordert uns zurzeit besonders heraus, denn es gibt neue Feinde des Miteinanders. Ein kleines Virus macht unsern Alltag unsicher und gefahrvoll. Und so pendeln wir ständig hin und her zwischen der Angst um unser Leben und der Hoffnung auf ein friedvolles, gesundes und stärkendes Miteinander.

Mit dieser Zerrissenheit sind wir täglich konfrontiert und bemühen uns um die besten Antworten darauf.

Meine Gedanken zum heutigen Volkstrauertag möchte ich mit einem Gedicht der Jüdin Rose Ausländer beschließen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

Gemeinsam

Vergesst nicht Freunde

Wir reisen gemeinsam.

Besteigen Berge

Pflücken Himbeeren

Lassen uns tragen von den vier Winden.

Vergesst nicht, es ist

Unsere gemeinsame Welt,

die ungeteilte,

und auch die geteilte,

die uns aufblühen lässt,

oder uns vernichtet,

diese zerrissene

ungeteilte Erde,

auf der wir gemeinsam reisen!

 

Rose Ausländer

 

 

 

 

 

Noch bist du da

 

Wirf deine Angst

In die Luft.

Bald ist deine Zeit um

Bald

Wächst der Himmel

Unter dem Gras

Fallen deine Träume

Ins Nirgends

Noch duftet die Nelke

Singt die Drossel

Noch darfst du lieben

Worte verschenken

Noch bist du da

 

Sei was du bist

Gib was du hast!